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Türkei Bulletin
Klientelpolitik par excellence

Recep Tayyip Erdoğan

Recep Tayyip Erdoğan

© picture alliance / AA | Kayhan Ozer

Weniger als vier Monate vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 14. Mai liegt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan in fast allen Umfragen zurück. Was ist der Hauptgrund für die schwindende Popularität des Präsidenten und seiner regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung AKP? Die Türkei hat in den vergangenen Jahren viele demokratische Rückschritte verzeichnet, vor allem in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit und Minderheitenrechte. Doch wie Bill Clintons Stratege James Carville bereits vor mehr als drei Jahrzehnten feststellte: Die Wirtschaft ist der Schlüssel zur Gunst der Wählenden. Carville nutzte seine Strategie während der Rezession in den USA erfolgreich, um den damals amtierenden Präsidenten George H. W. Bush aus dem Amt zu drängen und Bill Clinton zum Sieg zu verhelfen.

Aufgrund der umfangreichen Zinssenkungen der Zentralbank gegen Ende des Jahres 2021 stürzte die Lira ab, und die Inflation geriet außer Kontrolle. Auch wenn es der Zentralbank schließlich gelang, den Wechselkurs zu stabilisieren, konnte die Inflation nicht aufgehalten werden. Trotz der außerordentlichen Anstrengungen des Statistikamtes, diese so niedrig wie möglich zu beziffern, erreichte die Inflation Ende 2022 laut unabhängiger Experten Werte im dreistelligen Bereich. Infolgedessen sank der Lebensstandard vieler Türkinnen und Türken, was sich letztendlich in der zweiten Hälfte des Jahres 2022 spürbar auf Erdoğans Beliebtheitswerte auswirkte.

Darauf reagierte der Präsident mit einer beispiellosen Wirtschafts- und Klientelpolitik und einer Reihe von politischen Maßnahmen zur Abmilderung der sozialen Folgen, die vielfach kritisiert wurden. So wurde der Mindestlohn um 54 Prozent angehoben und eine Verordnung zur Beseitigung der Altersgrenze für den Eintritt in das Rentenalter erlassen. Damit werden in diesem Jahr zwei Millionen Menschen in den Ruhestand gehen können. Die voraussichtlichen Kosten belaufen sich auf 150 Milliarden Lira (7,34 Mrd. Euro). 170 Milliarden Lira (8,32 Mrd. Euro) sind für 250.000 neue Sozialbauwohnungen geplant, außerdem sollen langfristig billige Kredite für neu gebaute Wohnungen gewährt werden. Auch Familienunterstützungsprogramme in Höhe von 40 Milliarden Lira (1,96 Mrd. Euro) sollen eingeführt und die Autobahn- und Brückenmaut ausgesetzt werden. Überdies plant die Regierung die Übernahme von Privatschulden von Bürgern unter 2.000 Lira, wofür 30 Milliarden Lira (1,47 Mrd. Euro) an zusätzlichen Kosten anfallen werden. Für Kleinstunternehmen sind Kredite in Höhe von 150 Milliarden Lira (7,34 Mrd. Euro) geplant, sowie ein riesiges Kreditpaket in Höhe von 250 Milliarden Lira (12,24 Mrd. Euro), das fast alle Sektoren abdeckt und auf klein- und mittelständische Unternehmen ausgerichtet ist. Zusätzlich sind Steuersenkungen in vielen Bereichen (Löhne, Filme, Konzerte und Sportveranstaltungen) in Höhe von 278,7 Milliarden Lira (13,64 Mrd. Euro) angedacht. 100 Milliarden Lira (4,90 Mrd. Euro) fließen in eine Rentenprämie für 5,3 Millionen Staatsbedienstete, und auch eine Erhöhung der monatlichen Rentenzahlungen um 30 Prozent steht auf dem Plan. Selbst wenn die Liste der Maßnahmen noch nicht vollständig ist, illustriert die Vielzahl der geplanten Vorhaben den Gesamteindruck der Lage.

Die offiziell verlautbarte Inflationsrate ist von 84,4 Prozent im November auf 64,3 Prozent im Dezember 2022 gesunken, wenn auch hauptsächlich aufgrund von Basiseffekten, weshalb sie auch im Januar weiter stark zurückgehen wird. Außerdem ist es der Zentralbank gelungen, die Türkische Lira stabil zu halten. Dieses vorübergehende Gefühl der makroökonomischen Stabilität und die oben genannten Maßnahmen haben den Türken eine dringend benötigte wirtschaftliche Atempause verschafft. Das hat sich auch auf die Umfragewerte ausgewirkt: Obwohl Erdoğan laut der meisten Umfrageinstitute noch immer hinter der Opposition liegt, hat er in den letzten zwei Monaten mehrere Punkte hinzugewonnen, nicht zuletzt durch die umfangreichen Entlastungspakete. Um die Opposition endgültig zu überholen, kündigte er am 23. Januar das größte Umschuldungspaket in der Geschichte der Türkei an: Säumnisgebühren für unbezahlte Steuerrechnungen, Sozialversicherungsschulden und andere Verpflichtungen gegenüber staatlichen Einrichtungen sollen erlassen und ausstehende Schulden innerhalb einer Frist von 48 Monatsraten zurückgezahlt werden können. Auch Autofahrer kommen auf ihre Kosten: Einige Verkehrsstrafen und Bußgelder sollen gestrichen und etwa 10.000 beschlagnahmte Führerscheine zurückgegeben werden.

Es bleibt abzuwarten, ob die umfassenden Maßnahmen Erdoğan in den Umfragen endlich einen Vorsprung verschaffen, oder vor den Wahlen noch weitere Wählergeschenke folgen. Die Last all dieser Maßnahmen wird dem nächsten Präsidenten auferlegt, ob er nun Erdoğan heißt oder nicht. Aber laut einem türkischen Sprichwort formiert sich die Karawane auf dem Weg (kervan yolda düzülür). Man improvisiert also und wartet erst einmal ab, wohin die Reise geht – vorausgesetzt natürlich, dass es nach den Wahlen noch eine Karawane gibt.

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Dieser Artikel erschien erstmalig bei Focus online am 05.02.2023.