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Südkorea
Suizide in Südkorea: „Mein Freund, denk noch einmal drüber nach“

 Eine Barriere, die auf der Mapo-Brücke über den Han-Fluss in Seoul installiert wurde, die ein bekannter Ort für Selbstmord ist. Eine koreanische Botschaft mit der Aufschrift "Du bist der wertvollste Mensch der Welt" ist auf der Barriere zu sehen, die den Selbstmord erschweren soll.

 Eine Barriere, die auf der Mapo-Brücke über den Han-Fluss in Seoul installiert wurde, die ein bekannter Ort für Selbstmord ist. Eine koreanische Botschaft mit der Aufschrift "Du bist der wertvollste Mensch der Welt" ist auf der Barriere zu sehen, die den Selbstmord erschweren soll.

© picture alliance / YONHAPNEWS AGENCY | Yonhap

Südkorea hat die mit Abstand höchste Suizidrate aller OECD-Länder. Mit neuen Maßnahmen will die Regierung nun Leben retten. Doch ein tiefliegender Grund für die vielen Selbsttötungen ist schwer zu beseitigen: der enorme gesellschaftliche Druck auf das Individuum.

Auf der Mapo-Brücke in Südkoreas Hauptstadt Seoul geht es fast täglich um Leben und Tod:  Nahezu jeden zweiten Tag versucht ein Mensch von der Brücke zu springen und so sein Leben zu beenden.

Die Zahlen sind so alarmierend, dass die Stadtverwaltung in der Mitte der Brücke eine Bronzestatue als Mahnmal aufgestellt hat: Ein Mann legt tröstend seinen Arm um einen anderen Mann. „Mein Freund, denk noch einmal drüber nach“ ist in die Statue eingraviert.

Das Kunstobjekt soll Suizidgefährdete vom Springen abhalten. Dennoch nimmt die Zahl der Selbsttötungsversuche von Jahr zu Jahr zu. Allein 2022 versuchten dies 255 Menschen. Glücklicherweise konnten die Sprünge dank Überwachungsmaßnahmen, Notrufknöpfen und –Telefonen verhindert werden.

Die Mapo-Brücke in Seoul ist Brennpunkt einer dramatischen und schon seit Jahren andauernden Krise in Südkorea. Das Land hat die höchste Suizidrate aller OECD-Staaten. Nach den aktuellen Zahlen der OECD aus dem Jahr 2021 verzeichnete das Land 24,1 Suizide pro 100.000 Einwohner. Der OECD-Durchschnitt liegt bei 11,3; in Deutschland bei 9,7.

Selbsttötung zählt in Korea zu den häufigsten Todesursachen, noch vor Verkehrsunfällen oder Kreislauferkrankungen. Allein in den vergangenen drei Jahren haben sich fast 40.000 Menschen das Leben genommen.

Schild mit einem speziellen Telefon, das auf der Mapo-Brücke über den Han-Fluss in Seoul installiert wurde, die schon oft als Selbstmordziel aufgefallen ist, um Selbstmord zu verhindern.

Ein Schild mit einem speziellen Telefon, das auf der Mapo-Brücke über den Han-Fluss in Seoul installiert wurde, um Selbstmord zu verhindern.

© picture alliance / YONHAPNEWS AGENCY | Yonhap

Neues Konzept für Prävention

Trotz jahrelanger Bemühungen zeigen Präventionsmaßnahmen der Regierung wenig Wirkung. Nun soll die Intensivierung von mentalen Gesundheits-Check-ups die Zahlen endlich deutlich senken. Im Dezember 2023 kündigte Präsident Yoon an, dass ab 2025 die Zeitabstände für empfohlene Untersuchungen mithilfe des Patient Health Questionnaire- 9 (PHQ-9) von zehn Jahren auf zwei Jahre gesenkt werden sollen.

Der PHQ-9 ist ein Instrument zur Bewertung der mentalen Gesundheit. Er umfasst neun Fragen, die darauf abzielen, verschiedene Aspekte der mentalen Gesundheit zu erfassen. Dazu zählen Fragen wie: „Wie oft fühlten Sie sich im Verlauf der letzten zwei Wochen durch Beschwerden wie wenig Interesse oder Freude an Ihren Tätigkeiten oder durch Gedanken, dass Sie lieber tot wären oder sich Leid zufügen möchten, beeinträchtigt.“

Diese Maßnahme ist freiwillig und betrifft zunächst nur Personen im Alter von 20 bis 34 Jahren. Zukünftig soll es auf weitere Risikogruppen ausgeweitet werden. Zusätzlich werden landesweit 17 Stadt- und Provinzregierungen spezielle Suizidpräventionsprogramme einführen, die auf die jeweiligen Regionen und Altersgruppen zugeschnitten sind.

Darüber hinaus plant die Regierung noch dieses Jahr 80.000 Menschen eine psychologische Beratung anzubieten. Zielgruppen sind unter anderem Personen mit Selbsttötungsgedanken oder solche, die einen Suizid in der Familie erlebt haben. Bis 2027 soll einer Million Menschen der Zugang zur psychologischen Betreuung ermöglicht werden.

Damit will die Regierung auch gegen die Stigmatisierung von mentalen Leiden in Südkorea vorgehen. Die Tabuisierung führt dazu, dass sich Betroffene mit ihren Problemen isoliert fühlen und sich nicht rechtzeitig Hilfe suchen.

Rasanter gesellschaftlicher Wandel

Die Gründe für die anhaltend hohen Suizidraten in dem ostasiatischen Land sind vielschichtig. Viele Experten sehen jedoch den raschen gesellschaftlichen Wandel, den das Land in den vergangenen Jahrzehnten durchlebt hat, als fundamentale Herausforderung für viele Menschen: Noch in den 1960er-Jahren gehörte Südkorea zu den ärmsten Ländern der Welt. Heute ist es eine führende Industrienation.

Damit durchlebte Südkorea das, was der deutsche Soziologe Ulrich Beck als die Individualisierung von Industriegesellschaften versteht, extrem schnell. Beck argumentiert, dass in sich wirtschaftlich rasant entwickelnden Gesellschaften traditionelle soziale Bindungen und Werte weniger verbindlich werden.

Zudem herrscht in Korea ein extrem harter wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Wettbewerb. „Und da die traditionellen Bindungen zwischen Familienmitgliedern und Nachbarn schwächer werden, scheint jeder diesen Kampf um Erfolg alleine zu führen“, sagt Soong-nang Jang, Professorin für öffentliche Gesundheit an der Chung-Ang University.

Vor allem die junge Generation leidet unter dem hohen Erfolgsdruck. Jahrzehntelang ging es für das Land nur bergauf, jeder Generation ging es besser. „Aber inzwischen hat sich das Wirtschaftswachstum verlangsamt, und das heißt, dass es weniger gute Jobs gibt, und die junge Generation muss von klein auf um diese Jobs kämpfen“, sagt Jinwook Shin, Soziologie-Professor an der Seoul National University.

Der hohe Leistungsdruck beginnt schon früh und zeigt sich besonders deutlich beim Hochschulzulassungstest. Diese Tests entscheiden nicht nur über die berufliche Zukunft, sondern auch über das gesellschaftliche Ansehen über das gesamte Leben hinweg. Eltern investieren oft sehr hohe Geldsummen in die Ausbildung ihrer Kinder und erwarten im Gegenzug großen Erfolg. Viele Schüler bereiten sich bereits ein Jahr im Voraus intensiv vor und lernen täglich bis spät in die Nacht. Dabei bleibt oft keine Zeit für Freizeitaktivitäten oder Freunde.

Im Jahr 2022 lag die Zahl der Suizid- und Selbstverletzungsversuche unter Teenagern bei 160,5 Versuchen pro 100.000 Einwohnern. Selbsttötung ist die häufigste Todesursache für Menschen zwischen zehn und 39 Jahren.

Lehrer halten ihre Plakate während einer Kundgebung für einen besseren Schutz ihrer Rechte in der Nähe der Nationalversammlung in Seoul, Südkorea, am Samstag, 16. September 2023. Nach dem Selbstmord eines Grundschullehrers im Juli drängen Lehrer in ganz Südkorea auf verbesserte Systeme, um Lehrer vor den weit verbreiteten mutwilligen Beschwerden von Eltern zu schützen.

Lehrer halten ihre Plakate während einer Kundgebung für einen besseren Schutz ihrer Rechte in der Nähe der Nationalversammlung in Seoul, Südkorea, am Samstag, 16. September 2023. Nach dem Selbstmord eines Grundschullehrers im Juli drängen Lehrer in ganz Südkorea auf verbesserte Systeme, um Lehrer vor den weit verbreiteten mutwilligen Beschwerden von Eltern zu schützen.

© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Ahn Young-joon

Der enorme Druck wirkt sich auch die Lehrer aus. Die Zahl der Suizide ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich angestiegen. Nach dem Suizid einer jungen Lehrerin im vergangenen Spätsommer entlud sich der gesamte Frust der Berufsgruppe. Zehntausende zogen durch die Straßen Seouls und forderten einen besseren Schutz für Lehrer. Sie beklagen, dass zahlreiche überambitionierte Eltern ein Gesetz, das die Bestrafung von Kindesmisshandlung regelt, als Waffe gegen Lehrer instrumentalisieren – und verlangten mehr Rechtssicherheit. Das Gesetz ist mittlerweile etwas entschärft worden.

Zwang zur Schönheit unter Frauen

Wie in vielen anderen Ländern begehen Männer signifikant häufiger Suizid als Frauen. Im Jahr 2022 wurden etwa 35,3 Selbsttötungen pro 100.000 Einwohnern bei Männern und 15,1 pro 100.000 Einwohner bei Frauen verzeichnet. Dies kann unter anderem dadurch erklärt werden, dass Männer mehr Wert auf Unabhängigkeit legen als Frauen und Bitten um Hilfe als Schwäche ansehen. Frauen nehmen dagegen bereitwilliger Hilfe an und sprechen offener über ihre Gefühle.

Auch die Motive von Männern und Frauen unterscheiden sich. Insbesondere Männer müssen in Korea wirtschaftlich erfolgreich sein und stehen als Ernährer der Familie unter Druck. Laut dem Korean Statistical Information Service geben 35,5 Prozent der männlichen Befragten finanziellen Not als Grund für ihre suizidalen Gedanken an.

Bei Frauen sind dagegen mit 40,5 Prozent psychische Belastungen wie Depression die häufigste Ursache für suizidale Gedanken. Studien deuten darauf hin, dass ein Zusammenhang zwischen der Unzufriedenheit mit dem Aussehen und psychischen Problemen besteht. In Korea herrscht ein extremes Schönheitsideal: Für viele Frauen gelten eine super schlanke Figur mit unter 50 Kilogramm Körpergewicht, helle Haut und ein gesundes Hautbild als erstrebenswert. Auch Mobbing aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes ist ein Problem. Aufgrund der hohen Bedeutung von gutem Aussehen sind Schönheitsoperationen in Südkorea extrem weit verbreitet.

Auch von vielen K-Pop-Stars wird ein falsches Schönheitsideal vermittelt. Ein extremes Beispiel ist die bizarre Diät der Sängerin IU. Sie isst jeden Tag lediglich einen Apfel zum Frühstück, eine Süßkartoffel zum Mittag und trinkt abends einen Proteinshake.

Neben den jungen Menschen stellen auch ältere Menschen eine Risikogruppe dar, vor allem wegen ihrer wirtschaftlichen Schwierigkeiten. So hat Südkorea laut OECD neben der höchsten Selbsttötungsrate auch eine der höchsten Armutsraten unter Senioren. Das Rentensystem ist nur schwach ausgebaut.

Noch heute sieht man durch die hypermoderne Stadt Seoul immer wieder Senioren mit Handkarren durch die Straßen ziehen. Sie suchen nach recycelbarem Müll, um diesen dann zu verkaufen. Viele Senioren leben auch allein auf dem Land. Die jungen Menschen hat es wegen des raschen wirtschaftlichen Wandels des Landes in die Städte gezogen.

KI als Lebensretter

Neben den nun neu beschlossenen psychologischen Präventionsmaßnahmen wird Südkorea außerdem weiter auf Technik und Sicherungsmaßnahmen zur Verhinderung von Suiziden setzen. So sind auf den Brücken über den Han-Fluss beispielsweise Überwachungskameras installiert, mit deren Hilfe auch Künstliche Intelligenz eingesetzt wird.

Das KI-basierte Deep-Learning System ist in der Lage, Situationen in Echtzeit zu erkennen und Selbsttötungsversuche vorherzusagen. Es identifiziert dabei Verhaltensmuster wie Zögern, die auf ein Risiko für einen Sprung hinweisen können. In solchen Fällen alarmiert das System automatisch Rettungsteams, die das Verhalten überwachen und entscheiden können, ob ein Einsatz erforderlich ist.

Maja Adler absolviert derzeit ein Praktikum im Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Seoul.

 

Wenn Sie selbst Suizidgedanken haben oder jemanden kennen, der Unterstützung benötigt, sprechen Sie mit anderen Menschen darüber. Hier finden Sie – auch anonyme – Hilfsangebote per Chat, Telefon, W-Mail oder im persönlichen Gespräch.